Ein Sommer als Bohèmien

Bohemien Andrew Grimes

Durch die besondere Situation im heurigen Jahr 2020 kam es dazu, mein Leben grundlegend zu ändern, meinen Lebensmittelpunkt in mein Zuhause zu verlegen, nur wenige und sporadische gesellschaftliche Kontakte zu pflegen und die Zeit mit kreativer Tätigkeit herumzubringen. Die letzten Monate meines Lebens ähneln also sehr dem Lebensstil eines Bohemien.

Subkultur intellektueller Randgruppen

Die Begrifflichkeit Bohème stammt von der französischen Bezeichnung bohèmien ab und führt ins 15. Jahrhundert zurück. Er galt den Roma, die aus Böhmen nach Frankreich kamen, und verlor sich dann, sowohl im Französischen als auch im Deutschen. Bohèmien wie auch Zigeuner waren Ausdrücke einer unordentlichen, liderlichen Sitte geworden. Auch österreichische und deutsche Prostituierte wurden seinerzeit mit dem Titel “Böhminnen” gehandelt und auch Karl Marx fasst “La Bohème” für das Lumpenproletariat auf. Als Bezeichnung für unbürgerliche Künstler- und Autorengruppen ist die Begrifflichkeit “Bohème” im Deutschen etwa seit 1860 geläufig. Nach und nach setzte sich dieses Lehnwort durch und wurde häufig auf Autoren jener Zeit angewandt.

Die Lebensart eines Bohèmien oder einer Bohèmienne war vor allem in Künstlerkreisen weit verbreitet. Diese Subkultur von intellektuellen Randgruppen beheimatet vorwiegend schriftstellerische, bildkünstlerische und musikalische Aktivitäten oder Ambitionen. Bürgerliche Normen und Werte wurden dabei als einschränkend bewertet und der Wunsch nach Identitätsfindung, Selbstverwirklichung und kreativer Freiheit spielten dabei ein große Rolle. Die Bohème kehrte sich von der bürgerlichen Gesellschaft und dem Stereotyp des Bürgers regelrecht ab. Zur negativen Bürgersterotype zählen unter anderem Kunstfeindlichkeit, Dummheit, Gewinnsucht, Borniertheit, scheinheilige Moral und Untertanengeist. Die angestrebte Autonomie und damit auch die Ablehnung von bürgerlicher Arbeit setzt eine Bereitschaft zum Verzicht oder entsprechendes ökonomisches Kapital voraus. Dem Bohèmien drohte also jederzeit die Armut, weshalb Armut zu einem charakteristischen Merkmal der Bohème wurde.

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Ein Leben als Bohèmien?

Meiner Einschätzung nach sind die wirtschaftlichen Voraussetzungen für ein Leben als Bohèmien nicht mehr gegeben. Kunst in jeglicher Form ist heute nicht mehr gefragt, der heutige Künstler wird als “Unternehmer” gesehen und eben nicht mehr als Künstler gepriesen. Kunst ist also kein Bedürfnis mehr. Damit lässt sich heute also nur mehr sehr schwer ein Lebensunterhalt verdienen, was ein Leben als Bohème fast unmöglich macht.

Dennoch könnte man sagen, ich durfte in den vergangenen Monaten dieses Jahres ein wenig in die Welt der Bohème schnuppern. So ich dennoch keiner bin. Freilich ging ich in all dieser Zeit einem bürgerlichen Beruf nach, hatte jedoch aufgrund der vorherrschenden Situation kaum bis gar nichts in diesem zu erledigen. Ich hatte also meine kreative Freiheit, die ich mit schriftstellerischer und bildkünstlerischer Tätigkeit verbrachte. Meine gesellschaftlichen Zusammenkünfte beschränkte ich auf ein Minimum. Zumal ich auch die Menschen vor meiner Türe, also die bürgerliche Gesellschaft, die oft zu scheinheiligen Moralisten mutiert sind, auch gar nicht öfter als einmal die Woche anzutreffen vermag. Ebenso sind mir die Medien, die seit Wochen die Angst vor einer Krankheit schüren, zum verhassten Gegner geworden. Sohin legte ich meinen Lebensmittelpunkt in mein Heim mit Garten, frei nach den Zeilen aus Johann Wolfgang von Goethes “Osterspaziergang”: “Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein!”.

Den Rest der Zeit habe ich mir mit dem Verweilen in meiner kleinen heimischen Badeanstalt vertrieben, lauschte den Tieren und genoss die Sonne und Natur. Die regnerischen Stunden widmete ich der Literatur. Auch gab mir diese neue Lebenserfahrung die Möglichkeit, über das Leben, mich selbst und vielerlei andere Dinge zu sinnieren. Dies hatte zudem einen positiven Einfluss auf meinen Geist und Körper. Obwohl mir die finanzielle Situation anfänglich Unbehagen bereitete, konnte ich mich ziemlich bald damit arrangieren. So mancher Verzicht ist nämlich oft gar nicht so schwer wie er scheint. Viel zu viele Dinge scharen wir um uns herum, die wir gar nicht brauchen, die unser Leben in keinster Weise verbessern würden. Sie dienen lediglich der Befriedigung unseres Geistes, der uns immer wiederkehrend vorgaukelt, dass wir dieses oder jenes unbedingt haben müssen. Oft auch gar nicht unseretwegen, vielmehr um die Gesellschaft zu befriedigen. Dabei könnte uns die Gesellschaft doch auch getrost und kräftig am Arsch lecken. 

Quellennachweise: duden.de: nzz.ch
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